Bruch und Fragment
2017
Wolfgang Müller-Funk
Was können Texte, sprachliche Dokumente, zum Verständnis von Werken der Bildenden Kunst leisten? Zumindest helfen, sie, die Werke der Kunst bis zu einem gewissen Grad ‚zugänglich‘ und ‚lesbar‘ zu machen mit einem zweifellos fragmentarischen Lexikon von Begriffen, die das Werk einer Künstlerin und eines Künstlers erhellen. Moderne und modernste Kunst ist hermetisch und kommentarbedürftig, aber es ist nicht ausgemacht, ob diese Zuschreibung nicht auch für die tieferen Schichten vormoderner Artefakte gilt. Auf jeden Fall ist diese Eigenschaft moderner Kunstwerke nicht automatisch ein Argument gegen diese. Es besagt nur, dass wir in einer komplexen Welt leben, deren heimliches Alphabet die Künste sind.
Zu jenen Begriffen, die das OEuvre von Sabine Müller-Funk erschließen und erhellen, gehört – neben Spur, Zeichen oder Membran – zweifelsohne der Bruch und, damit in Verbindung, das Fragment, ein Lehnwort aus dem 16. Jahrhundert, das ja nichts anderes bedeutet als seine spätere Übersetzung ‚Bruchstück‘. [1] Die Effekte, die der Bruch erzeugt und mit sich bringt – Fragment, Ausschnitt, Einschnitt, Zäsur, Scherbe – sind auf allen Ebenen ihres Arbeitens präsent, im Material Glas, in ihrer Arbeitsweise und in der Epiphanie der Werke selbst.
Gebrochenheit als Befindlichkeit, die dem Fragmentarischen zugrunde liegt, ist ein Markenzeichen dessen, was man als Moderne bezeichnen kann. Sie zeugt davon, dass das Ganze verloren gegangen und nicht mehr erreichbar ist. Das Ganze ist nicht mehr zu haben; das Fragment als sprachliches wie als visuelles Bruchstück ist die logische Folge eines Verlustes, der ins Produktive gewendet wird. Das Individuum, das sich aus dem Ganzen löst und emanzipiert, ist ohne das Drama des Bruchs undenkbar.
Von einer Tradition des Bruchs hat der mexikanische Dichter und Essayist Octavio Paz im Hinblick auf den Modernismus von Kunst und Literatur gesprochen.[2] Er meint damit zunächst den selbst auferlegten Zwang der Moderne, mit der klassischen Kunst oder auch der vorangegangenen Kunstströmung zu brechen, doch entsteht daraus eine paradoxe Tradition, die den Bruch zum Sujet und zur Struktur des Modernen macht. Einschlägig ist in dieser Hinsicht Walter Benjamins essayistisch pointierter Befund über das Fragment, der von den ‚Scherben eines Gefäßes‘ ausgeht, die einander ähneln, aber nicht gleich sind und die sich als Bruchstücke eines verloren gegangenen Ganzen begreifen lassen.[3] Benjamin, der die Vielfalt der Sprachen vor Augen hat, folgt hier den Spuren kabbalistischen Denkens, in dem der Schöpfungsprozess aus drei Momenten besteht: aus der Selbstkonzentration (Zim Zum), aus der eigentlichen Schöpfung, die Vielfalt hervorbringt, aber auch zum Zerbrechen des einheitlichen Gefäßes (Shebirah) führt, und schließlich aus dem messianischen Ende (Tikkun), in dem die Einheit auf neue synthetische Weise wiederhergestellt wird. Dass dieses Ende hinausgeschoben wird und wohl niemals stattfinden wird, ist dabei die moderne Pointe. Der abstrakte Expressionismus eines Barnett Newman ist von dieser Figur der Moderne geprägt, in der der Schwebezustand zwischen Gebrochenheit und messianischer Erwartung gleichsam verewigt wird. Dieser Interpretation zufolge befindet sich die Welt und mit ihr die Kunst in einem gleichsam messianischen Dauerzustand, in der das Ganze des Gefäßes freilich nur eine Ahnung und das Bruchstück der Signifikant des abwesenden Ganzen ist.
Es war nicht zuletzt die deutsche Frühromantik, die zum ersten Mal diese Erfahrung der Gebrochenheit festgehalten und zu einem ästhetischen Programm erklärt hat. Viele Kunstwerke der ‚Alten‘ sind, so Friedrich Schlegel, ‚Fragmente geworden‘. ‚Viele Werke‘ seien es hingegen ‚gleich bei der Entstehung‘. Schlegel, der den Dialog als eine ‚Kette von Fragmenten‘ verstanden hat, hat in einem Fragment auf eine höchst anschauliche Weise beschrieben, was er unter diesem versteht: »Ein Fragment muss gleich einem klugen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.« [4] Damit ist aber auch klar, dass das moderne intentionale Fragment, anders als das unbeabsichtigte Bruchstück, ein hohes Maß an Selbstständigkeit erlangt und so sein Bezug zu einem unsichtbaren, abwesenden Ganzen ein höchst abstrakter ist. Statt eines schlechten Ganzen kommt im ästhetischen Glücksfall ein gelungenes Bruchstück zum Vorschein, das auf jenes imaginäre Ganze fast spielerisch referiert.
Glas, das Material, von dem Sabine Müller-Funks Gesamtwerk seinen Ausgang genommen hat, ist ein ganz besonderer Werkstoff, der der Logik des Bruches auf eine verblüffende Weise folgt. Konsequenterweise arbeitet die Künstlerin mit eckigen, zumeist industriell gefertigten Scheiben, in die sie sich, durchaus gewaltsam, wie Beat Wyss anlässlich eines Symposions über das Werk der Künstlerin gemeint hat, in einem Akt der Dekonstruktion, einschreibt und diese sodann in einer Art von Obsession in Stücke schneidet und neu zusammensetzt – wie in Speicherglas. Was daraus entsteht, ist freilich nicht ein neues Ganzes, sondern eine Serie von Fragmenten, die wie die Scherben Benjamins ähnlich, aber doch nicht gleich sind und so das Heterogene unseres Gedächtnisses in einem unlesbar gewordenen Buch veranschaulichen. Sie hat dieses Verfahren auch in einer weiteren zentralen Arbeit, Psalm 151 (zusammen mit dem Komponisten Herbert Lauermann), vorgeführt, indem sie die Psalmen, Kernstück des Buchs der Bücher, in Glas einschneidet, schwärzt, zerschneidet und in geschwärzte Holzstäbe verschließt.
Das Material Glas besitzt zudem eine Eigenschaft, die mit dem Bruch verwandt ist. Glas ist nicht nur zerbrechlich, sondern es bricht auch selbst das Licht, so dass sich die Kunstfragmente, die Sabine Müller-Funk geschaffen hat, selbst, je nach Lichtsituation und dem Standort der Betrachtung, noch einmal verändern. So wird, was das Ergebnis von Brüchen ist, zum Ort eines Lichts, das sich an ihm bricht und die Gebrochenheit verdoppelt.
Zerbrochen werden bei diesem dekonstruktiven Verfahren indes auch die Formelemente, die auf Glas, Leinwand und auf anderen Auftragsflächen sichtbar sind. Es sind oftmals fragmentierte Buchstaben, die ihre Form zurückgewinnen, indem sie ihre bedeutsame Funktion als Signifikanten einbüßen. Die Schrift wird unlesbar. Was zurückbleibt, ist die Geste der Handschrift. In ihren Fahnen und Mobiles bringt Sabine Müller-Funk diese entstellte Schrift auf Glastäfelchen in Bewegung.
Die Sätze von Jabès[5], Bachmann, Lorca, Achmatowa oder ihre eigenen verlieren sich in einer merkwürdigen Aura der Bedeutungslosigkeit, die zugleich ihre Bedeutsamkeit ausmacht. In diesem Sinne sind ihre Werke mit jener Denkbewegung der Dekonstruktion verwandt, die die gewohnte Bedeutung zerstört und sich dadurch einem Bereich nähert, den man mit Friedrich Schlegel als das Unverständliche bezeichnen kann.6[6] Das bedeutet, in einem Modus des Verstehens zu leben, der das Nicht-Verstehen mit einschließt, jenes Nicht-Verstehens, das nicht mit dem Missverstehen zu verwechseln ist. Auch darin ist eine Absage an Vollständigkeit impliziert: Vollständiges Verstehen impliziert nämlich, nichts zu verstehen von dem Provisorischen und Bruchstückhaften unserer Versuche, die Welt durch Sprache, Bildlichkeit und Zeichen zu verstehen. Das Fragment ist stets ein Einspruch gegen die ‚Wut des Verstehens‘.[7] Insofern ist moderne Kunst – und darin besteht ihre metapolitische und metasemiotische Bedeutung – aus der Perspektive der Künstlerin
wie ihres Publikums die Kunst, mit Fremdheit umgehen zu lernen, zu begreifen, dass es keinen endgültigen und perfekten Ausweg aus ihr gibt und geben kann, höchstens die sprichwörtliche romantische Ahnung. Sabine Müller-Funk geht über die abstrakte moderne Kunst insofern hinaus, als ihre Brüche eine semiotische Bedeutung haben und damit das Dialogische im Kunstwerk selbst im Fragment verankern.
So steht das Essayistische in der bildenden Kunst wie in Literatur und Philosophie in einem Spannungsverhältnis von Reflexion und einem Moment von Mystik, wenn Mystik die Erfahrung von Fremdheit bedeutet. Die Rätselgestalten der zerbrochenen und oftmals technisch raffiniert reproduzierten handgeschriebenen Buchstaben sind deren Chiffren, die wie in Schattenfresser zu einer Struktur verdickt und verdichtet werden. In diesem Diptychon verhalten sich die schlanken Skulpturen komplementär zueinander. Aber was sie wie Schlegels Igel eigensinnig trennt, ist der Zwischenraum. Das Fragment, besonders das gläserne, schafft klare Kanten und erzeugt Linien und Verbindungen.[8]
Auch andere Formelemente von Sabine Müller-Funk erschließen sich, wenn man sie in Zusammenhang mit einer Ästhetik des Bruchs liest – etwa jene zumeist dunklen Bögen auf Glas oder auf Leinwand. Bögen sind Ausschnitte eines Kreises, der niemals sichtbar werden kann. Diese Bögen in Glas oder in Farbe sind im Sinne Benjamins ähnlich, aber nie gleich und auch nicht komplementär wie die Bastelbögen unserer Kindheit. Der Kreis ist geometrisch besehen das perfekte Ganze. Aber niemals werden sich die Bögen dieser Serien, die die Künstlerin geschaffen hat, zu einem Ganzen zusammenfügen. Insofern enthalten ihre Arbeiten stets ein Moment von Selbstbezüglichkeit. Sie sprechen über die Kunst und ihren Ort in einer fremdgewordenen Welt.
Wolfgang Müller-Funk
[1] Eberhard Ostermann: Der Begriff des Fragments als Leitmetapher der ästhetischen Moderne. Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 189—205.
[2] Octavio Paz: Los hijos del limo. Dal romanticism a la vanguardia, Barcelona 1974, vgl. auch Wolfgang Müller-Funk, Broken Narratives. Die Moderne als Tradition des Bruchs, in: Anna Babka/Marlen Bidwell-Steiner (Hg.), Narrative im Bruch, Broken Narratives 1, Wien: Vienna University Press 2016, S. 19-36. In Vorbereitung: Wolfgang Müller-Funk/ Camilo Del Valle Latanzio, Zwischen dem Schweigen und der Kritik. Zur Form des modernen Essays im Werk Octavio Paz’, Wien: Praesens 2018.
[3] Walter Benjamin: Gesammelte Werke, IV, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 18.
[4] Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente, in: Schriften zur Literatur, München: dtv 1972, S. 27 bzw. S. 45.
[5] Edmond Jabès,:Vom Buch zum Buch, München: Hanser 1989
[6] Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit, in: Schriften zur Literatur, a. a. O., S. 332-344.
[7] Jochen Hörisch: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988.
[8] Vgl. sabine.mueller-funk.com (3.12.2017, 11:48); Sabine Müller-Funk: Speicherglas, Wien: Czernin 2006