Sabine Müller-Funk

Approximatives zur Schriftlichkeit und Bildlichkeit

2017

Carl Aigner

Gefalteter Industriefilz mit eingeschriebener Handschrift
2010, Industriefilz, Acrylfarbe, Graphit, Drahtgeflecht, ca. 100 x 60 cm

Es kam darauf an wer da sah, und wie,
und in welchem Moment.

aus: Die Obstdiebin, Peter Handke

»Mein Handeln als Künstlerin begreife ich als eine Art und Weise die Welt anzuschauen und zu erforschen, wie ich mit ihr verbunden bin«, formuliert Sabine Müller-Funk ihr künstlerisches Selbstverständnis. [1] Der küns]tlerische Diskurs lässt sich damit als besondere Form nicht nur von Bedeutungssuche und -gewinnung, sondern darüber hinaus auch als besondere Strategie von Sinn- suche und -gewinnung sehen. Sinnherstellung setzt dabei die Bedeutungsgewinnung voraus, ist gewissermaßen deren Semiose.

Die künstlerische Semiose (Zeichenprozesse dieser Bedeutungsherstellung) figuriert dabei im Werk der Künstlerin im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Bildlichkeit. Sie (die Semiose) zeichnet sich durch die Verweigerung einer Dichotomie von Signifkat und Signifikant aus. Derridas ‚Grammatologie‘[2] dekonstruiert die linguistische Dualität zugunsten einer ‚freien Flottierung‘ des Signifikanten und öffnet die Semiose zu einem permanenten amalgamierenden Zeichenprozess, der überhaupt erst qua ‚Künstlerischem‘ Bedeutungsfindung ermöglicht (der Kon-Text macht den ‚Text‘); algorithmisch formuliert: Es gibt keine Hard- und Software mehr, beide bedingen sich im Semioseprozess wechselseitig.

Das Werk von Sabine Müller-Funk basiert, was Aspekte der Skripturalität und Pikturalität betrifft, auf Materialien wie Draht, Graphit, Industriefilz, Acrylfarbe und vor allem Glas, das in- zwischen eine wichtige ‚Signifikanz‘ einnimmt (selbst bei Arbeiten, die auf hartem Material wie Krastaler Marmor beruhen). Bildlichkeit und Schriftlichkeit als ‚Formatierung‘ von Bedeutung werden in ihrer Zeichenhaftigkeit zu einer Symbiose. Für beide, Bild und Schrift, gilt dabei, dass deren ‚Basis-Gen‘ die Linie, der Strich, das Gekritzel ‚bildet‘: Alles Schriftliche und Bildliche be- ginnt mit dem Gekritzel (als ‚Unbewusstes‘ der Linie) und mündet in der Linie (als die ‚rationale‘ Seite des Gekritzels).

Die Schrift wird beispielsweise bei Weiche Spur / Schnitt zur Metapher für Kom- munikation und Mnemosyne – einem Spiel zwischen Mitteilung und ihrer Annullierung. Der Verlust von Lesbarkeit lässt die Schrift »in ihrer bloßen Visualität und Rätselhaftigkeit sichtbar werden«, umreißt Sabine Müller-Funk ihre Intentionen. Es geht um Strategien einer Aufhebung von Semantisierung. Die Arbeit an der Demantisierung von Schriftlichkeit wird zum Kern ihrer künstlerischen Bedeutungsfindung. Demantisierung heißt Aufhebung von Schriftbedeutung, also die Verweigerung einer skripturalen Lesbarkeit – der Text wird zur grápheinischen Textur! So ist es folgerichtig und logisch, dass Schriftlichkeit zu einer informellen Geste gerinnt und sie zur abstrakten Bildlichkeit mutiert. Jenseits einer anthropologischen Frage nach der Priorität von Schrift oder Bild (das Eine bedingt wohl das Andere und vice versa) wird das Unsichtbare der Schrift (die abwesende Semantik) infolge ihrer pikturalen ‚Dekonstruktion‘ zu einem Unbewuss- ten des Bildlichen, zu einem Graphein, die Spur dieses Graphein zur ‚Semantik‘ der Bildlichkeit, das Gekritzel, der informelle Gestus zur bildnerischen Weltschöpfung und Weltgewinnung.

Mit Bild und Schrift beginnt die Archivierung der Welt, ihr Zeittransfer, die ‚Aufhebung‘ von Bedeutung, ihre Abrufbarkeit. Die graphische Spur im Sinne von gráphein, also Einritzung, Ein- kerbung, öffnet beide Perspektiven: Das Schriftliche und das Bildliche. Die ‚Gravur‘ wird so zur signifikanten Werkstrategie des bildnerischen und skripturalen Arbeitens und führt nicht zufällig konsequent zur zunehmenden Verwendung von Glas: »Glas verwende ich als Trägerplatte für frei schwebende Ausschnitte von Gesamtzusammenhängen, als Ort der Zeitlosigkeit und Indifferenz, als Kreuzungspunkt zwischen Transzendenz und Immanenz, als komprimierte Leere, die den Be- obachter in sich hineinzieht, als Verweis auf Sehnsucht nach der Ferne, dem Anderen«, schreibt die Künstlerin selbst. In mehrfacher Hinsicht werden Schrift und Bild als gráphein semantisch freigesetzt und grammatologisch dem ‚Logos‘ entzogen. Zunächst ist es die Aufhebung einer eindimensionalen Perspektivität des Semantischen durch die Transparenz des Materials ‚Glas‘: Es gibt keine Vorder- oder Rückseite des Trägermaterials mehr; jede Eingravierung wird zu einem skriptural-bildlichen Vexierbild. Mittels der Verfahrensweise der Reihung und Schichtung (meh- rere Glasplatten werden zusammengefügt) pluralisiert sich das gráphein und wird performativ.

Gut Gasteil/Priglitz Metallgitter, farbiges und farbloses Glas, eingravierter Text, Graphit, Eisenrahmen, 220 x 300 cm

Membrane des Jetzt  ist als Landschaftsinstallation 2005 auf Gut Gasteil in Prigglitz tituliert. Metallgitter, farbiges und farbloses Glas, eingravierter Graphittext, alles in Form eines aufgeklappten Buches gestaltet, thematisiert eindringlich einen wichtigen Fokus der Werke von Sabine Müller-Funk: Wahrnehmung, Sehen, Erkennen, kurz: die (Un-)Lesbarkeit von Welt. »…wird die Landschaft erst zu einer Landschaft durch ihren Betrachter?« fragt sie sich dabei und stellt wiederum die Frage nach einer Zeichenbarkeit (Semiose) von Welt. Jenseits aller Kommerzialisierung von Kunst und einer Behübschbarkeit von Welt durch sie (Ästhetik heißt nicht Schönheit, sondern Wahrnehmung und damit Erfahrbarkeit von Welt!) geht es um essentielle Aspekte einer Erkenntnisgewinnung von Welt durch den künstlerischen Diskurs schlechthin im Werk von Sabine Müller-Funk.

In einer algorithmisch basierten High-Tech-Gesellschaft fokussiert sich deren Bedeutungsge- winnung auf autofunktionale Gegebenheiten, wird letztlich zu deren High-End ihrer Weltwahr- nehmung und ist nicht mehr imstande, jenseits eines Effizienzdenkens Sinn zu gewinnen. Schon Schiller schreibt in seiner Ästhetischen Erziehung des Menschen im Zweiten Brief 1793, dass der

»Nutzen das große Idol der Zeit« geworden ist, alles auf Nützlichkeit reduziert wird; stattdessen merkt er eindringlich an, die »Kunst ist eine Tochter der Freyheit«, die sich über die »Nothdurft der Materie« »mit anständiger Kühnheit« erheben muss. [3]

Der künstlerische Diskurs als ein Weg in das Freie der ‚Freyheit‘ von Sinngewinnung ist dring- licher denn je. Wenn eine globalisierte Gesellschaft wie die gegenwärtige sich derart über Bild und Schrift konstituiert, ist es für Sabine Müller-Funk naheliegend, Bildlichkeit und Schriftlichkeit als Wege einer (neuen/anderen) Weltgewinnung zu thematisieren – auch darin liegt die gesellschaft- liche Brisanz ihrer Arbeiten.

[1] sabine.mueller-funk.com (2017)
[2] Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, 16-48
[3] Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Zweyter Brief, Stuttgart: Reclam 2013, S. 8.