Sabine Müller-Funk

das Land sehen

2017

Walter Seitter

2004, Asphalt-Schreib-Performance mit einer Straßenasphaltiermaschine Internationales Kunstprojekt On the Road (still) Drosendorf/Thaya (NÖ)

die straße sehen

Im Sommer 2004, Anfang Juli, führte Sabine Müller-Funk – im Rahmen des von ihr organisierten internationalen Kunstprojekts On the road. Still – eine Aktion durch, die gleichzeitig etwas fast Bombastisches und etwas Still-Bescheidenes hatte. Doch nicht zur selben Zeit. Die aufwändige Operation muss schon zuvor stattgefunden haben und ist mir nur durch ihr Resultat bzw. durch eine fotografische Dokumentation bekannt geworden. Da muss die Künstlerin mit Hilfe der örtlichen Straßenmeisterei bzw. eines ihr zur Verfügung gestellten Asphaltierungsfahrzeuges einige aus großen Wörtern bestehenden Sätze auf die Asphaltdecke einer kleinen ländlichen Straße ,geschrieben‘ haben – und zwar mit einer Asphaltspritze. Sätze, die einigermaßen tautologisch diesen Sachverhalt formulierten. Die Teilnehmer und Gäste der Kunstaktion konnten dann das Ergebnis sehen, indem sie auf jener stillen Straße gehend zu ihren Füßen die Folge der Wörter abgelesen haben, ihr nachgegangen oder ihr entgegengegangen sind.

Es war ein warmer Sommertag, die Straße war so schmal und bescheiden, von Autoverkehr so unberührt, dass das Wort ‚Straße‘ eigentlich schon zu hoch gegriffen scheint. Tatsächlich eher ein Feldweg, der einzig dem landwirtschaftlichen Güterverkehr gewidmet sein mochte. Nach ‚Straße‘ sah der eigentlich nur deswegen aus, weil er so schnurgerade durch die fast ebene Wiesen- und Felderlandschaft führte und so tat, als würde er ziemlich weit weg führen, immerhin bis zu einem benachbarten Weiler und dann noch weiter bis zu einem übernächsten. Und nach ‚Straße‘ sah jener Feldweg vor allem deswegen aus, weil er asphaltiert war, und die Asphaltdecke machte einen guten Eindruck. Auf ihr standen – oder ‚lagen‘? – die in großer Schreibschrift mit schwarzem Asphalt hingeschriebenen Wörter und Sätze.

Was war der Haupteffekt jener Aktion? Ein sehr bescheidener. Nämlich, dass wir, die eingeladenen Gäste, an jenem Samstag oder Sonntag, unsere Aufmerksamkeit auf die Straße, auf die Oberfläche der Straße richteten, und zwar als Fußgänger, Besucher, Betrachter, als Leser, als darüber Sprechende. Eigentlich war jene kleine ländliche Straße für den normalen Verkehr de facto gesperrt. Ich erinnere mich auch nicht, dass da etwa ein Traktor dahergekommen wäre und auf Durchfahrt bestanden hätte. Es dürfte sich um eine Art okkasionelle  Fußgängerzone gehandelt  haben, vereinbart für jenes Kunstereignis…

die straße analysieren

Das hier beschriebene Sehen der Straße, das zum Anschauen, ja zum Besichtigen übergeht, unterscheidet sich bereits von dem Sehen der Straße, das der Verkehrsteilnehmer – sei es der Fußgänger, Radfahrer oder Autofahrer – leisten muss, um seinen Pflichten als Verkehrsteilnehmer nachzukommen. Denn dieses ist kein kontemplatives Sehen, sondern ein technisches Kontrollieren aller Umstände, Risiken und Signale, mit dem die eigene Vorwärtsbewegung wie auch die Abwendung von Gefahren für alle Verkehrsteilnehmer sichergestellt werden sollen. Gerade so eine kleine und idyllische Asphaltstraße wie die in Drosendorf, macht es den Interessenten ziemlich leicht, zu einer wiederum anderen Betrachtungsart überzugehen. Man braucht nur von der Straße heruntergehen und wegtreten und in die benachbarte Wiese eintreten, also die Straße lateral verlassen, so kann man von der Seite einen Blick auf sie werfen, man kann sie von der Seite sehen, bzw. ihr Seitenprofil betrachten.

Da wird man sehen, dass die Asphaltauflage eine bestimmte Höhe hat, etwa einige Zentimeter, und dass diese auf einem Schotterbett aufliegt, das mindestens ebenso hoch ist. Man sieht also annäherungsweise, dass die Straße keineswegs nur aus einer Oberfläche besteht, die für den Straßenbenützer das einzige Wesentliche zu sein scheint. Sondern auch, dass diese Oberfläche, um die Eigenschaften zu haben, die sie haben soll, von einem menschengemachten, von einem gebauten Körper, getragen wird, von dem jetzt zwei Schichten ansichtig werden und der mindestens einen Dezimeter hoch ist, wahrscheinlich höher, und der in der einen horizontalen Dimension, die der Breite der Straße entspricht, mindestens ein paar Meter misst, und in der anderen Dimension, also in der Länge der Straße, sich über viel mehr Meter, meistens tausende, zehntausende, erstreckt. Diesen Straßenkörper in seiner Geometrie, in seinen üblichen Zusammensetzungen, die zumeist auf etwas Steinartiges hinauslaufen, beschreiben, mit Wörtern nachzeichnen, nachbauen, das habe ich in manchen Aufsätzen, auch in dem Katalog zur Drosendorfer Veranstaltung, getan, und an die Spitze dieser Wörter habe ich zumeist das Wort ‚Mauer‘ gesetzt – und damit einen bestimmten Paradoxie-Effekt erzielt, weil ja die Straße als Verkehrsbau, als Kommunikationsmedium gilt, während man den Mauern üblicherweise die Funktion von Abgrenzung, Abtrennung zuschreibt. Dabei denkt man allerdings ausschließlich an die Mauern von Hochbauten. Die Straßen gehören indessen zum Bereich des Tiefbaus, der nicht nur in der Erde anhebt (wie jeder Bau) sondern zumeist auch in ihrer Nähe verbleibt. Die Mauern, die straßenbildend hergestellt werden und wirksam sind, erreichen in der Regel nur geringe Höhen (Brücken können da Ausnahmen bilden) – wie das erwähnte Drosendorfer Beispiel zeigt. Allerdings wirken auch die niedrigen Straßenmauern trennend, teilend. Unsere ‚Superstraßen‘, nämlich die Autobahnen, tun das ganz massiv: erstens wegen ihrer Breite und ihrer Planken, eventuell auch wegen hoher Wildschutzzäune oder Lärmschutzwände, zweitens wegen der Gefährdung von eventuellen Überquerern durch das rasante Verkehrsaufkommen, drittens aufgrund expliziten Verbotes von Betreten und Überqueren.

Daher beschließe ich dieses Resümee mit der Aufzählung der drei oder vier Schichten, aus denen eine Straße besteht: Mauerkörper, harte und glatte Oberfläche, Luftkorridor darüber sowie die polizeilichen Gebote und Verbote, Signal- und Kontrollmechanismen. In unserer, d.h. weltweiten, Zivilisation haben Straßen und ähnliche Tiefbauwerke im quantitativen Verhältnis zu den Hochbauten stark zugenommen. Denn die Invasionen und die Verkehre, die Übermacht der Offensivwaffen und immer wieder neue Anziehungs- und Abstoßungskräfte haben Festungsmauern und Stadtmauern und ähnliche Aufhalteranlagen hinweggefegt und innerhalb der Hochbauten setzen sich die horizontal ausgedehnten Verkehrsflächen fort, multiplizieren sich geschoßweise. den boden sehen oder nicht sehen Der massivste Trennungs- oder Sperrungseffekt, der von der Straße ausgeht, wirkt aber nicht in die Richtungen ‚links‘ oder ‚rechts‘, womit die Landschaft sichtlich gezeichnet, graphisch gegliedert, stellenweise auseinanderdividiert wird, sondern in die Richtungen unten und oben, Unterwelt und Oberwelt, Erde und Himmel. Diese beiden hauptsächlichen Geschoße oder Stockwerke unseres irdischen Daseins werden durch Straßen sowie die dazugehörigen Verkehrsflächen wie auch durch die anhängigen Hochbauten eher nicht ersichtlich getrennt – indem mindestens eine harte, überwiegend künstliche, steinartige Schicht zwischen dem natürlichen Untergrund und der natürlichen Atmosphäre eingebaut, eingeschoben wird. Man nennt das ‚Bodenversiegelung‘ und Naturwissenschaftler behaupten, die stellenweise aber zunehmende ‚Absperrung‘ zwischen dem vielfältig zusammengesetzten Untergrund und der Atmosphäre habe gravierende Auswirkungen – nicht nur für Landwirtschaft und Wasserversorgung. Soll man dieses Bodenverschwinden als Vernichtung oder als Transformation des Bodens bezeichnen? Führt die Anthropogenisierung der Böden zu einer ‚Dritten Landschaft‘, ins ‚Anthropozän‘ oder – ?

Gilles Clément: Manifest der Dritten Landschaft (Berlin 2007).

Heureka. Das Wissenschaftsmagazin aus dem Falter Verlag: Unser Boden. (Was wir über seine Geheimnisse lernen können und warum er dringend unseren Schutz braucht) 2/2017.

Hansjörg Küster: Die Entdeckung der Landschaft. Einführung in eine neue Wissenschaft (München 2012).

David R. Montgomery: Dreck. Warum unsere Zivilisation den Boden unter den Füßen verliert (München 2010).

Alexander Purger: Land ohne Äcker, in: Salzburger Nachrichten, 15. November 2016.

Walter Seitter: Das Land sehen, in: Günther Selichar: ,Suchbilder‘ 1991-1993 (Salzburg 1993).

Walter Seitter: Physik der Autobahn, in: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997).

Walter Seitter: Archäologie der Zukunft. Rede auf der Autobahn, in: op. cit.

Walter Seitter: Die Straße, in: ders.: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen (Weimar 2002).

Walter Seitter: Die Mehrgeschoßigkeit der Welt, in: texte. psychoanalyse.ästhetik.kulturkritik 2004/2.

Walter Seitter: Das Medium Straße, in: On the road. Still (Drosendorf/Rousse 2005).

Rolf Peter Sieferle: Der unterirdische Wald. Energiekrise und industrielle Revolution (München 1982).