Membrane des Jetzt
2005
Metallgitter, farbiges und farbloses Glas, eingravierter Text, Graphit, Eisenrahmen, 220 x 300 cm
Gut Gasteil/Priglitz (NÖ)
Lieber Edmond, liebe Ingeborg,
was meint Ihr, wird auch die Landschaft erst zu einer Landschaft durch Ihren Betrachter? Gefiltert und durchsetzt gleichzeitig mit den Worten und Bildern, die in seinem Kopf bereits existieren? Der Sommer Irrwischmähne, hochgehalten von einem prächtigen Nacken – welche Musik höre ich, wenn ich diese sanften Kurven der Landschaft sehe, wohin schreibe ich mich entlang der Linie entlang am Jetzt, wohin schweift der Blick – weg vom Geschriebenen, das das Davor und Dahinter reflektiert, wie wird der Hügel bergauf im Abendlicht auftauchen? Der Horizont sich schärfer abzeichnend und hinter mir das Tal mit seinem dunklen Buschwerk undeutlich verschwommen, bereits feuchte Kühle ausatmend. – Später. Der Blick, die Gedanken, durch die Membrane des Jetzt, unstet, vor und zurück. Mein Atem jetzt. Sich hin-schreiben zum Horizont der erträumten Ferne, entlang-schreiben an den Rändern der Erfahrung, hinschauen zum Noch-nicht, dem Nicht-mehr, meine Augen, meine Landschaft, Gurdijeff, leise, abwartend, immer mehr das Jetzt hören, das doch nie ein Ganz-hier werden kann. Die Zeit hat ihre Finger verbrannt, bei der stürmischen Berührung mit dem Tod, lieber Edmond. Alle Fenster stehen offen. Das Buch aufschlagen, die Landschaft öffnen, jene, die vor allen anderen Büchern und Landschaften existieren. Mit dem Lesen, dem Schauen. Die Bilder verweben mit den abgelehnten Worten – wohin gehen die Worte, die abgelehnt wurden, wo werden sie gedeihen? Wohin aber gehen wir, wenn es dunkel wird und kalt? Mit schlaftrunkenen Vögeln, liebe Ingeborg, und winddurchschossenen Bäumen steht der Tag auf – der Mann mit der ewigen Schere, lieber Edmond, schneidet einen Schatten aus dem Tag nach seinem Maß, und wohin gehen die Schatten der ausgeschnittenen Wörter? Der Wörter – zu langsam ausgewählt, nicht gesagt. Die Bläue des Morgens, die Ferne des Noch-nicht-Abends. Die Landschaft wartet still auf ihren Betrachter, der sie aufschlagen und lesen wird. Implicatio – Explicatio.
Sabine Müller-Funk
in: Membrane des Jetzt, Kunst in der Landschaft, Gut Gasteil, 2005
Das Jetzt ist in der philosophischen Tradition des Okzidents der Terminus für die Bezeichnung radikaler Gegenwärtigkeit, jenes Moments, in dem Landschaft, Zeit, Reflexion und Anschauung scheinbar zeitlos ineins fallen. Die im Winkel von 120 Grad zueinander geordneten Draht-Glas-Fahnen sind transparent und spiegelnd zugleich. Und sie ermöglichen es, Raum und Zeit, das Dahinter und Davor des Spatialen und des Chronischen miteinander zu verschränken. Zugleich erzeugen sie einen Zwischenraum, einen radikalen Durchblick.
Durch die Schrift kommen die zeitlichen Dimensionen des Davor und Dahinter, des Vergangenen und des Künftigen, ins Spiel. In der Zwiesprache mit Ingeborg Bachmann und Edmond Jabés, vor allem aber mit sich selbst wird die Paradoxie der Membrane des Jetzt entfaltet. Es entsteht ein Gedächtnisraum, der sich selbst wieder aufhebt. Die Schriftwand ist in sich gebrochen, ein Insgesamt wohlgeordneter und geschichteter Fragmente. Die eingravierte Handschrift wird unlesbar. Die Signifikanten verweisen nur mehr auf sich selbst, auf die Funktion der sich im harten Material einschreibenden Gravur.
Die Buchstabenreihen verwandeln sich in bloße Zeichen, in Piktogramme. Wo die Welt unlesbar wird, entsteht der symbolische Raum des Geheimnisses, das sich dem Betrachter erschließt, indem es sich verschließt. (…)
Wolfgang Müller-Funk
in: Mitschrift – Mit Schrift, Literaturedition NÖ, 2006