Sabine Müller-Funk

Wortwürfel

20003

Dagmar Travner

Speicherglas (Detail),
2004-06, Holz, Blei, Glas
Foto Barbara Krobath

Wir sehen hier unter anderem schwere, grün glänzende Kuben in Buchgröße, an den Kanten mit Bleiblech fixierte, beschriebene Glasscheiben – im Inneren eine Unzahl an Schriftschichten zu einem kompaktem Cluster überlagert. „Wortwürfel” nennt die Künstlerin Sabine Müller-Funk diese Skulpturen, und der Wiener Philosoph Walter Seitter meint dazu spitzfindig: „Wenn man dieses Objekt ansieht, dann denkt man sich, wie gut es ist, dass unsere Bücher aus undurchsichtigem Papier sind, weil sonst hätten wir lauter Sabine-Müller-Funk-Palimpseste statt der Bücher.” Das gläserne Zusammenspiel von Transparenz, Reflexion und Absorption – den drei Erscheinungen natürlichen Glases – stellt ein zentrales Thema der Künstlerin dar.


Schon 1983 hat Sabine Müller-Funk ihre besondere Vorliebe für den Werkstoff Glas in Scheibenform entdeckt und seine Transparenz in Opposition zu opaken Materialien gesetzt: Metalle, Blei oder Zinn, weiters Holz, Sand, Beton, Graphit, Kalksandstein finden sich daher in vielen ihrer Arbeiten.
Ihre schwungvoll gebogenen Skulpturen erscheinen häufig gleich einer eingefrorenen Bewegung hoch geworfener Glasscheiben. Eine ungeheure Dynamik liegt in der Anordnung der scheinbar frei schwebenden Teile. Farbflächen kommen kalkuliert und sparsam mit ins Spiel, ergänzen das Werk durch einen in sich stimmigen Akzent: der eingearbeitete orangegelbe Sand stammt aus Breiteneich bei Horn, der rote Sand aus Griechenland; translucide Färbung des Glases erzielt sie durch Acrylfarben auf sandgestrahlten Flächen … Der einbezogene Hintergrund – im Freien sind dies Himmel oder Pflanzliches – vermittelt Luftigkeit oder Erdenschwere. Eben darauf verweisen auch die rechteckigen, fensterartigen Ausschnitte, die sich leitmotivisch durch ihre Arbeiten ziehen. Senkrecht aufgereiht bedeuten sie Himmel und Luft, horizontale Formen stehen für Erde, Leben, Welt. So etwa am Boden liegenden Glas-Fliesen, die beschritten werden können. Die Künstlerin verwendet dafür bruchsicheres Glas, das zum Teil Schriftzeichen trägt. Ihr gefällt es, wie sie es ausdrückt: „Auf verfestigter Flüssigkeit die Landschaft durchschreiten …” Für sie stellt gewöhnliches Glas wegen seines grünlichen Glanzes und des eigentlich flüssigen Aggregatzustandes eine wesentliche Verbindung zu Wasser her. Und tatsächlich fügen sich diese Glasplatten, Miniaturteichen gleich, harmonisch in das Grasland ein.
Mitten im Raum auf feinmaschigem Drahtgeflecht von der Decke hängend, sind Objekte befestigt, die aus dem Zusammenspiel von Durchlässigkeit, Spiegelung und Dichte eine besondere Eigenart gewinnen. Beispielsweise kunstvolle Glasscheiben mit zusätzlichen kleinen Glasplättchen-Blöcken und Karton-Sand-Teilen. Der Rahmen der Glasflächen besteht aus Bleiruten, gelötet mit Zinn, welches durch seine Helligkeit die Funktion einer „Höhung”, wie man in der Malerei sagen würde, einnimmt. Verändert man nun den Standpunkt beziehungsweise die Lichtverhältnisse, so erscheint der vermeintliche Spiegel als durchlässig. Die Durchsichtigkeit gibt den Blick frei auf das Darunter- oder Dahinter-Liegende, was wiederum durchscheinend sein kann. Und so weiter … – würde man meinen. Aber die Durchlässigkeit des Materials ist beschränkt, wie sich bei den Glasblöcken zeigt; viele übereinander gestapelte Scheiben sind nicht mehr völlig durchsichtig und nehmen zumeist eine grünliche Farbe an. Denn Glas beeinflusst den Lichtstrahl an den Grenzflächen – mit der Folge, dass ein Teil des Lichts in gebündelten Glasscheiben mehrfach bricht und innerhalb des „Würfels” reflektiert wird, wobei leichte Verfärbung und Verdunkelung die Folge sind. Wird das Licht hingegen an der Oberfläche vollständig zurückgeworfen, spricht man von einer Spiegelung. „Ça me regarde” – es blickt mich an, es geht mich etwas an – wie der französische Philosoph Jacques Lacan gern zu bemerken pflegte. Die drei Ebenen: real – imaginär – symbolisch finden sich in jeder der Skulpturen wieder, und oft kann man nicht entscheiden, welche davon man gerade betrachtet. Blinzelt einen das im Glas gebrochene Licht etwa an? Oder steht da hinten eine Figur? Oder handelt es sich um ein trügerisches Spiegelbild? Glas eröffnet eine Sicht auf die Welt, verweist auf draußen liegende Objekte, wirft aber gleichzeitig den Blick zurück auf das Selbst. Der Betrachter erhascht ein Spiegelbild überlagert von einem schemenhaften Hintergrund, eine Ansicht, die sich – eingerahmt vom Kunst-Gegenstand – durch eine kleine Bewegung verschieben kann.


Schrift-Überlagerungen selbst sind unter vielen anderen Arbeiten beispielsweise bei den erwähnten „Wort-Würfeln” oder den gebogenen „Wort-Büchsen” das Thema, aber auch bei den „Tagesspeichern”, die tagebuchartig ein Jahr lang täglich verfasst und eingefasst werden. Sabine Müller-Funk nennt es: „Ablagerungen an Gedanken so übereinander speichern.” Hierbei stellen die Schriftgravuren ein massives, eigenständiges Objekt innerhalb der grünlich leuchtenden Glascluster dar; Tages-Texte in sich bergend, fungieren sie als Gefäße, als Tresore, ja als Schatzkästchen für das Eingeschlossene. Hier wird Kommunikation transportiert durch künstliche Spuren am und im Glas. Folgerichtig in der Logik des Gegensatzes transparent versus opak weiterdenkend, arbeitet die Künstlerin an einem Projekt, um die natürlichen Zeichen von Straßen zu verdeutlichen; fungieren Straßen denn nicht nur als Vermittler zwischen Orten – was die Vogelperspektive anschaulich verdeutlicht –, sondern wird auch ihrer Materialität Asphalt durch die Zeit quasi Straßengeschichte eingeschrieben – in Form von Spuren, Brüchen, Rillen, Zeichenartigem. Erste Arbeiten dazu gibt es bereits zu sehen: Objekte – nämlich „zerbrechliche Flächen der Kommunikation” – mit zerschnittenen Schriftfragmenten im Vordergrund, im Inneren translucide Abbildungen von Straßen. Später einmal möchte die Künstlerin aus Landstraßen Asphaltblöcke herausschneiden und vertauscht wieder einsetzen. Was auf die indogermanische Urbedeutung unseres Wortes „Kommunikation” verweisen würde: nämlich Austausch, Tauschen, Täuschung …


Und die Quintessenz?
Sie ragen in den Himmel, sie liegen begehbar am Boden, sie bilden transparente „Bücher”, sie spiegeln das Außerhalb, sie beinhalten verborgene Botschaften. Durch die Kontrastsetzungen und den geradezu widersprüchlichen Einsatz in Kontexten, die den Werkstoff Glas in einem neuen Licht präsentieren, erhält dieses eine bemerkenswerte Gewichtung: „Eine komprimierte Leere, die den Beobachter in sich hineinzieht”, so Sabine Müller-Funk. Die vier Elemente – Wasser verkörpert durch das Material Glas, Feuer durch das damit gestaltete Licht, Luft und Erde symbolisiert durch vertikale und horizontale Flächen – legen die Frage nach dem zu ergänzenden Fünften Element, der Quintessenz nahe: Ergibt sich diese durch die Verdichtung der Transparenz, durch diese Leere, die erst den Ort für die Imagination schafft? Oder stiftet vielmehr die Komplexität der Gegensätze ein vollkommenes Ganzes?

erschienen in: morgen 05/20023